Aue: Anders andersrum

Ein paar Beobachtungen (Erkenntnisse?) zu Littells Hauptfigur Max Aue. Aue ist – darauf wurde in vielen Rezensionen hingewiesen – eine unwahrscheinliche, eher unrealististische Figur: Gebildet, schwul und „dennoch“ Angehöriger der SS, der den Massenmord organisiert und zum Teil auch selbst ausführt. Aue ist mit Sicherheit kein „exemplarischer“ (sofern es denn sowas gibt) Täter des 3. Reiches .

Im Rahmen von Littells in Interviews und über seinen Protagonisten verkündeten Programms – zu zeigen, wie buchstäblich niemand davor gefeit ist, im Rahmen der Zeitläufte unmenschliche Taten zu verüben, erfüllt diese scheinbar hybride – „halb unbelehrbarer Faschist, halb reuiger Sünder“ [S.29] – Konstruktion Aues aber ihren Sinn.

Littell schildert Planung, Umsetzung und Ausführung des Massenmordes ebenso detailliert wie ausführlich. Dabei entwirft er ein Panoptikum verschiedener Tätertypen: Sadisten und Bürokraten, gedankenlose und skrupolöse Mörder, Gebildetete und Ungebildetete, einfache Soldaten und hohe NS-Schergen.

Während viele durchaus den Erwartungen des mit Vorwissen ausgestatteten Lesers entsprechen, verstört Aue durch seine Widersprüche: Die Figur scheint im Gegensatz zu einem Großteil des übrigen Roman-Personals in erster Linie durch ihre literarische Funktion bestimmt: An Aue soll die „These“ des Romans belegt werden.

Aue erscheint weder als Sympathie-Träger noch wirklich abstossend. Indem Littell den Roman als Lebensbericht seines Protagonisten anlegt, folgt er einem alten Hitchcockschen Rezept: Das Geschehen aus der Perspektive des Täters zu zeigen, begünstigt – unabhängig davon, ob wir uns ansonsten in ihm erkennen können – die Identifikation mit ihm. Man beginnt mit fortschreitender Lektüre die Logik der Person nachzuvollziehen, man beginnt – und das scheint vom Autor beabsichtigt – Aue zu verstehen.

Im Rahmen der vom Autor vorgeschlagenen Lesart des Romans erfüllen Aues Bildung und seine Homosexualität dabei ihre Funktion: Aue fühlt sich durch seine Bildung (die eher im Sinne von hohem Bildungsgrad als von Bildung im emphatischen Sinne zu verstehen ist) und Reflektionsvermögen seinen Mittätern moralisch überlegen:

„Ich beobachte und tue nichts, das ist meine Lieblingsrolle.“ [S.358]

Er rechtfertigt sein Handeln als intellektuelles Experiment, der vermeintlichen Kleingeistigkeit seiner Mitmenschen entgegengesetzt:

„Seit meiner Kindheit trieb mich der leidenschaftliche Wunsch nach dem Absoluten und nach Grenzüberschreitung.“ [S.137]

Wozu auch gehört, dass der Mord aus tiefster Bejahung und tiefstem Verständnis für die Ideologie ausgeführt werden soll:

„Wenn man ihnen [den Befehlen] bloß aus preußischem Gehorsam folgte, ohne sie zu verstehen, … war man lediglich ein Schaf, ein Sklave und kein Mensch.“ [S.147]

Aues Kultiviertheit hindert ihn nicht, am Massenmord teilzunehmen. Im Gegenteil: Sie hilft ihm, seine Taten vor sich zu rechtfertigen.

In diesem Rahmen wird auch die Funktion von Aues Homosexualtität verständlich. Der „schwule Nazi“ ist ein altbekanntes Topos (z.B. In B-Movies): Sexuelle Devianz – „Perversion“ – dient zur Kennzeichnung und „Erklärung“ des metaphysischen Bösen. Der Etabliertheitsgrad dieses Vorurteils lässt sich daran ablesen, dass Thomas Pynchon – der sich in seinem literarischen Spiel nur echter „Qualitäts-Klischees“ bedient – es in Die Enden der Parabel aufgreift. Auch Littell erinnert an das Vorurteil, wenn er Aue über den Leiter des Reichssicherheitshauptamtes Heydrich feststellen lässt:

„Er machte auf mich einen verwirrend effemenierten Eindruck, was ihn nur noch unheimlicher wirken ließ.“ [S.81]

Dass Aue schwul ist, steigert dagegen nicht den Eindruck seiner Monströsität sondern dient paradoxerweise vielmehr der Darstellung seiner Normalität [Vgl. S.38 und hier]. Aue ist nicht das personifizierte Böse, Aue ist Karrierist.

Seine Homosexualität macht ihn erpressbar und wird, als er in der Nähe eines Berlin-bekannten Schwulen-Treffpunkts von der Polizei aufgegriffen wird, zum Anlass seines Eintritts in den Sicherheitsdienst.

Sie fügt sich – gerade in dieser ironischen Wendung, dass die Abweichung zum Anfang von Aues Karriere bei der Vernichtung des Abweichenden wird – in den von Littell (bzw. seinem Protagonisten proklamierten Plan), zu erzählen, wie buchstäblich jeder in die Mühlen der Geschichte geraten kann.

Und ebenso andersrum: Aue, dessen Verhältnis zu seiner Sexualität ebenso entfremdet erscheint, wie ein Großteil seines Handelns, integriert seine Homosexualität in sein nationalsozialistisches Weltbild. Zumindest kann er, wenn es darum geht, einen anderen SS-Angehörigen zur gemeinsamen Ausübung mann-männlicher Liebe zu gewinnen – unter dem unvermeidlichen Rückgriff auf Platons Gastmahl und Alexander den Großen – eine Theorie entwickeln, warum Homosexualität im besten Einklang mit der NS-Ideologie steht. [Vgl. S.281ff.]

Es kommt nicht darauf an, wie historisch wahrscheinlich oder schlüssig die Figur Aues ist. Ihre Funktion für den Roman beruht darauf, dass sie den Erwartungen des Lesers an die Figur eines SS-Schergen möglichst widerspricht.

Was mir auch im Hinblick auf den „Gegenwartsbezug“ der Wohlgesinnten wichtig erscheint. Aber das ist ein anderes Thema, das ein andermal im Leselog behandelt werden soll.

Ansonsten gilt wie immer an dieser Stelle: Alle Erkenntnis ist vorläufig – Stay tuned.

Anmerkung:
Alle Seitenangaben und Zitate soweit nicht anders angegeben:
Littell, Jonathan: Die Wohlgesinnten. Berlin 2008.


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