Fotografie in Hervé Guiberts autobiographischem Projekt

(Ausschnitt aus Magisterarbeit)

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Das Projekt der Selbstenthüllung

Das verdoppelte Leben Hervé Guiberts

„Jede individuelle Geschichte wird durch ihre photographische, bildhafte und eingebildete Geschichte verdoppelt.“
Hervé Guibert: „Die Lieblingsphotos.“1

Es gibt Autoren, die schreiben ihre Autobiographie – vielleicht auch zwei Autobiographien – und es gibt Autoren, die eigentlich nur ein Thema kennen: sich selbst. Der 1955 geborene Schriftsteller Hervé Guibert2 ist ein Vertreter des letzteren Typus: Ein Großteil seines Werkes bildet das „Projekts der Selbstenthüllung“3. Fotografie hatte eine große Bedeutung in Guiberts Leben: Er hat mehrere Fotobände veröffentlicht, an diversen Ausstellungen teilgenommen, schrieb von 1977-85 Fotokritiken für „Le Monde“ und bereits der Raum, den in seinen autobiographischen Schriften die Fotografie beansprucht, lässt auf eine innige Beziehung des Autors zum Medium schließen. Mehr noch: Guibert hat Fotografie konsequent als Mittel der Autobiographie genutzt. Seine Fotografien zeigen bis auf wenige Ausnahmen ihn oder seinen Freundeskreis, seine Essays über das Thema Fotografie handeln nicht vom Wesen des Mediums sondern von seinem Begehren, seiner Jugend, seiner Art, von der Fotografie seinen persönlichen Gebrauch als Konsument und Produzent von Fotografien und als Schreibender zu machen.

Zwar wurde Guibert einem größeren Publikum nicht durch die Fotografie, sondern durch einen César für sein Drehbuch zu „L‘homme blessé“4 und später durch die literarische Verarbeitung seiner Krankheit bekannt, dennoch hat die Fotografie einen entscheidenden Anteil an seinem autobiographischen Projekt. Als Inhalt, in den Metaphern, in der Struktur der einzelnen Werke wie in der Struktur ihrer Beziehung untereinander zeigt sich der Einfluss des Mediums auf Guiberts gesamtes Schaffen.

War seine autobiographischen Selbstenthüllung zuletzt vom Thema Aids beherrscht, ist sie zu Beginn in erster Linie durch die Auseinandersetzung mit seinen Eltern motiviert. Das 1986 veröffentlichte „Mes Parents“5 ist Beschreibung der kleinbürgerlichen Enge des Elternhauses und Abrechnung mit den Eltern: Indem er ihre Doppelmoral und seine Verachtung für sie enthüllt, versucht er die emotionale Beziehung zu ihnen zu trennen. Das Buch endet im symbolischen Vatermord durch Erzählung: Guibert zitiert aus einer unveröffentlichten Kurzgeschichte, die mit dem Tod des Vaters endet.

Sein bevorstehender eigener Tod wird 1990 der Grund dafür, dass Guibert über Frankreich hinaus Beachtung findet. „Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat“6 ist die erste literarische Verarbeitung des Themas Aids, bei der von Literatur im emphatischen Sinne gesprochen werden kann, und bietet durch Enthüllungen über Michel Foucault und Isabelle Adjani, mit denen Guibert befreundet war, das Maß an Skandal, durch das auch die Aufmerksamkeit von literarisch Nichtinteressierten zu gewinnen ist.

Guibert setzt die Chronik seiner Erkrankung mit „Mitleidsprotokoll“7 (1991) und „Cytomégalovirus“8 (1992 posthum veröffentlicht) fort, bevor er an den Folgen eines Selbstmordversuches am 27. Dezember 1991 stirbt. Nach seinem Tod werden noch „L‘homme au chapeau rouge“9 und „Das Paradies“10 veröffentlicht – zwei Werke in denen Guibert Fiktion und Autobiographie verbindet. Dabei kann insbesondere „Das Paradies“ als literarisches Vermächtnis verstanden werden: Guibert zerstört hier den Glauben an seine autobiographische Aufrichtigkeit und führt durch Verwirrung der Identität seines literarischen Alter Egos das Konzept der Identität der Person ad absurdum.

Diese finale Negation der Selbstenthüllung kann als Reaktion auf die Rezeption von „Dem Freund…“ gewertet werden. Als Gegenstand des öffentlichen Interesse wurde ein vergegenständlichtes Subjekt Hervé Guibert konstruiert, das dem in seinem autobiographischen Projekt dargestellten Subjektbild zutiefst widerspricht. Die Kritiker sparten nicht mit Zuschreibungen wie „anrührende Lebensbeichte“11 oder „entblößt sich bis auf die Haut“12 und beurteilten den Autor nach den Maßstäben einer Moral, vor der sich zu rechtfertigen, er tunlichst unterlassen hatte.

Den aufmerksamen Leser von Guiberts Werk konnte die Dekonstruktion von Selbst und Selbstenthüllung in „Das Paradies“ kaum überraschen. Bereits die frühen Werke des autobiographischen Projektes nehmen einen Platz zwischen Dokumentation und Fiktion ein. So wird in der Widmung von „Phantom-Bild“ das Projekt der Selbstenthüllung noch als „allgemeiner Roman“13 bezeichnet und in „Mes Parents“ auf die Gattungsbezeichnung „Autobiographie“ verzichtet. Indem er im gleichen Werk den in der Widmung, die gemeinhin als authentische Äußerung des Autors betrachtet wird, ausgedrückten Hass als fiktiv gekennzeichnet – „La haine de la dédicace du livre, bien sûr, était fictive.“14 – relativiert er das Verhältnis von Authentizität und Fiktion.

Dennoch gehören die Werke zur autobiographischen Gattung: Die Identität von Protagonist und Autor ist gegeben und nach Guiberts Begriff der Wahrheit – auf den weiter unter eingegangen wird – handelt es sich um Darstellungen seiner inneren Wahrheit. Die Zerstörung der Identität von Autor und Protagonist, wie die Zerstörung der Vorstellung von der Identität einer Person überhaupt, wie sie Guibert in „Das Paradies“ betreibt, kann auch als Reaktion auf die Konsequenzen der Autobiographie verstanden werden: Indem der Autor sein Leben zu Literatur macht, erschafft er eine Kunstfigur, die mit ihm identisch sein soll, als Kunstfigur immer auch ein Eigenleben führt.15

Das Eigenleben seines literarischen Ichs, das einen Großteil seiner Werke beherrscht, wirkt auf Guiberts zurück. Seine autobiographische Technik lässt sich treffend als Verdoppelung seiner Person beschreiben; die Kunstfigur Hervé Guibert wird – auch bedingt durch das wiederholte emphatische Bekenntnis zu einem Programm der Selbstenthüllung – als mit der realen Person identisch angesehen. Das Bild beginnt das Leben seiner Schöpfers zu bestimmen: „Ich bin ein doppeltes Wesen, Schriftsteller manchmal und nichts anderes ein andermal […]. Ich habe mich zum Opfer eines schizophrenen Mechanismus gemacht, den ich selber ersonnen habe, indem ich mich zu zwei Personen verdoppelte […].“16 Diesen schizophrenen Mechanismus zu durchbrechen, indem die Einheit von literarischem Ich und realer Person aufgekündigt wird, ist eines der Motive der autobiographischen Dekonstruktion.