„Ich bin wie ihr.”

Okay, so sonderlich originell ist meine Hypothese nicht: Schließlich wird Littell im ersten Kapitel nicht müde, das gleichsam Allgemein-Menschliche seines Ich-Erzählers Max Aue zu betonen. (Vielleicht hätte ich nicht nur den Teil 1 des Vorabdruckes im FAZ-Reading-Room lesen sollen …)

„Trotzdem könntet ihr euch sagen, dass ihr das, was ich getan habe, genauso hättet tun können.“ [S.33. Siehe auch u.a. S.15, S.35]

„Ich bin wie ihr.“ [S.39]

Die Banalität des Ich-Erzählers scheint dabei ein wichtiges literarisches Mittel, die Normalität – die Nicht-Monströsität – Aues darzustellen. Wobei ich nach Lektüre der ersten 40 Seiten im Gegensatz zu vielen Rezensenten in Aue auch keinen Feingeist zu erkennen mag. Vielmehr eine grundbanale Person, die gerne Feingeist wäre – allein es haben dazu (bzw. zum Pianisten) Talent und Ambition dann doch nicht gereicht.

Auch die besonders heftig diskutierten „Perversionen“ des Protagonisten scheinen mir der Darstellung seiner Banalität zu dienen: Es soll kein gerade idealtypischer Täter konstruiert werden, sondern eine Person, deren Normalität sich gerade an den zu dieser gehörenden Abweichungen von der Norm zeigt.

„Doch warum hätte nicht auch ein SS-Obersturmbannführer ein Innenleben haben sollen, Begierden und Leidenschaften wie alle anderen. […] Keiner war typischer als irgendein Mensch in irgendeinem Beruf.“ [S.38]

(Wobei er in der Summe von Verdauungsstörungen, inzestuösem Verlangen nach seiner Schwester und Homosexualität eine gewissermaßen überdeterminierte Kunstfigur darstellt.)

Desweiteren scheint mir in den Rezensionen der vermeintlich historische Charakter des Werkes überbetont zu sein. Aue greift zur Erklärung seines Handelns explizit auf die Marxsche Kategorie der Entfremdung zurück, die entfremdete Arbeit in Aues Spitzenfabrik wird mit dem industrialisierten Mord verglichen:

„Wie der Arbeiter nach Marx dem Produkt seiner Arbeit entfremdet wird, so wird der Befehlsempfänger im Genozid oder im totalen Krieg moderner Prägung dem Produkt seines Handelns entfremdet.“ [S.31]

Über die Kategorie der Entfremdung wird das historische Geschehen wieder in Bezug zur Gegenwart gebracht, denn ohne Zweifel sind Arbeits- und Lebenswelt der Gegenwart auch noch mit dieser Kategorie zu beschreiben.

Ob es sich dabei um ein eigenständiges Motiv handelt, Littell nur zeigen will, dass er auch die Dialektik der Aufklärung gelesen hat oder Entfremdung nur ein weiteres Mittel ist, die Distanz zwischen Leser und Erzähler zu verringern, muss die weitere Lektüre zeigen. Ebenso, ob die Spitzen die Aue fabriziert, eine weiterreichende metaphorische Funktion haben, denn:

„Der Saal ist dunkel, die schmutzigen Fensterscheiben sind blau gestrichen, weil die Spitzen empfindlich sind, sie vertragen kein Licht, und der bläuliche Dämmerschein beruhigt mein Gemüt.“ [S.17]

Vielleicht liege ich mit meinen Vermutungen auch völlig falsch. Was aber nichts macht, denn der Sinn des Unternehmens „Leselog“ soll darin liegen, dass interpretierende Herantasten an einen Text mit allen Irrungen und Wirrungen für Leser (und auch den Autor) dieses Blogs transparent zu machen.

In diesem Sinne: Stay tuned.

Anmerkung:

Alle Seitenangaben und Zitate soweit nicht anders angegeben:
Littell, Jonathan: Die Wohlgesinnten. Berlin 2008.


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