Liebes Tagebuch (19): Heuchelei, höchste Kategorie.

Nachdem sich der dopingfreie Radsport möglicherweise als Sinke-Witz der Woche erwiesen hat, erklimmen die öffentlich-rechtlichen Volkserziehungsanstalten einen neuen Gipfel der Heuchelei. Der Nikolaus (Brender) vom ZDF will uns glauben machen, dass wir künftig nur „gesunden Sport“ im Programm seines Senders finden und ersetzt mit sofortiger Wirkung die Tour-Berichterstattung durch Telenovelas. Zwar habe auch ich mit der Verve des enttäuschten Liebhabers an dieser Stelle wiederholt auf meine Ex-Lieblingssportart eingedroschen, aber wenn ein gewisser Gipfel der Heuchelei erklommen wird, muss man sie auch mal wieder in Schutz nehmen und einen Blick auf die Fakten werfen.

Denn das Bekenntnis zum „gesunden Sport“ ist schon ziemlich überraschend vom Chefredakteur eines Senders, der es als Höhepunkt der Samstagabend-Unterhaltung ansieht, wenn Menschen sich live und in Farbe krankenhausreif prügeln. Wobei Boxen nur die Spitze des Eisbergs darstellt, denn Leistungssport ist in den seltensten Fällen „gesund“: Auch ganz ohne unkontrollierte Medikamentenselbstversuche der Akteure führt dauerhafte Belastung über die körperlichen Grenzen hinaus nicht zu dem als Ideal beschworenen „mens sana in corpore sano.“

Konsequenterweise müsste sich die Sportberichterstattung also demnächst auf Live-Übertragungen aus dem Thermalbad, vom Wassertreten und Schach beschränken. Synchronschwimmen ist vielleicht auch noch drin. Aber soweit wird es nicht kommen, denn das Problem am Doping im Radsport liegt nicht in den Risiken und Nebenwirkungen für die Gesundheit der Pedaleure sondern in der empfindlichen Störung des der Massenwirkung der Sportart zugrunde liegenden Narrativs: Die Geschichte vom einsamen Helden der seine und die äußere Natur sowie die Konkurrenten nur mit Willenskraft, Fairness und protestantischer Leistungsethik besiegt, funktioniert nicht mehr, wenn davon ausgegangen werden muss, dass nicht überlegenes Talent sondern das bessere Medikament zum Sieg geführt haben. (Wobei diese narrative Struktur ohnehin in auffälligen Gegensatz zur Natur des Radports als stark von Taktik bestimmter Mannschaftssportart steht.)

Doping ist insbesondere für die Fernsehanstalten kein Gesundheitsproblem sondern ein gravierender Störfaktor bei der Vermarktung des teuer erworbenen Produktes „Leistungssport“. Abgeschaltet wird aus Angst vor Marktanteilsverlusten und Imageschäden. Die Darstellung des Radsport als Reich des Bösen in der ansonsten vermeintlichheilen Welt der wettkampfmässigen Körperertüchtigung verhindert nicht unsauberen Sport sondern die ehrliche Diskussion über den ideologischen Charakter der Sportberichterstattung, der sich bereits an dem Wort Berichterstattung zeigt.

Der journalistische Aspekt spielt eine völlig untergeordnete Rolle bei Aus- und Übertragung von großen Sportereignissen. Beim Leistungssport dürfte es bereits seit der Antike (Olympiade, Gladiatorenkämpfe, etc.) vor allem um das Spektakel, die Unterhaltung gegangen sein. Der unterhaltende Appeal des Sportes in der Moderne besteht vor allem darin, dass er einerseits grundlegende Werte der kapitalistischen Leistungsgesellschaft illustriert und vermittelt, dabei aber ebenso als vermeintlicher Gegenentwurf zu den komplexen, für den Einzelnen kaum transparenten, sozialen Verhältnissen steht.

Sport erfüllt das Bedürfnis nach Überschaubarkeit und Simplizität: Die hohe Popularität des Fussballs dürfte auch darin gründen, dass abseits der Abseitsregel jeder diesen Sport verstehen kann („Ball rund, 90 Minuten, usw.“). Der Glaube, sportlicher Erfolg könne nicht einfach erkauft werden, ist dabei essentiell für die Wahrung des Scheins der Durchschaubarkeit.

Ein ehrlicher Umgang mit der aktuellen Tour-Krise bestünde daher nicht in der Inszenierung maximaler moralischer Entrüstung sondern in einer grundlegenden Diskussion über die Funktion von Sport für Gesellschaft und Medien. Sich einfach mal weniger über das „kranke System“ echauffieren und stattdessen die Funktion der Tour und anderer Grossveranstaltungen im übergeordneten System benennen: Dass es sich um Produkte einer globalen Unterhaltungsindustrie handelt.

Und dann könnte sich Herr Brender und sein Kollege von der ARD vielleicht mal einem ungleich gravierenden moralischen Problem als dem Testosteron-Wert von Herrn Sinkewitz stellen: Ob mit den Millionen der Gebührenzahler nächstes Jahr wirklich eine optimale Plattform für die Werbeveranstaltung eines die Menschenrechte verachtenden Staates errichtet werden muss.

Da es diese Diskussion aber nicht geben wird, halte mich zu Unterhaltungszwecken lieber gleich an die Fiktion: Und werde mal wieder den schönsten und bösesten Radsport-Film überhaupt schauen: „Das große Rennen von Belleville.“